Autor: Alexander Wiechec
Das männliche Denkprinzip
Ihr Ansatz, daß nur die Kultur, nur das Denken und Sprechen, nicht aber die Natur gültige Maßstäbe für das Menschsein liefere, ist eine ins Extrem gesteigerte Fortführung der „Ideologischen“ Einseitigkeit innerhalb der abendländischen Geistesentwicklung. Sie führt die Einseitigkeit des männlichen Prinzips, das heißt des Denkprinzips (gegenüber dem Wahrnehmungsprinzip, welches eher dem weiblichen Pol entspricht) fort, die bei Parmenides ihren Anfang nahm. Sie setzte sich in Platos Ausrichtung auf die Ideen fort, fand sich in der Leib- und Sinnesfeindlichkeit des Kirchenchristentums wieder, dann in der Tendenz zur Ideologie des 19. Und 20. Jahrhundert, mit all ihren schrecklichen Auswirkungen und mündet heute schließlich in Genderismus und Korrektismus.
Daß auch die Entwicklung der virtuellen Realität durch die Technik ein Kind dieser wahrnehmungs- und naturfernen Strömung des Abendlands ist, sei hier nur am Rande erwähnt. Es ist gewissermaßen die „Erbsünde“ des Abendlands, die sich hier durch die Jahrhunderte zieht; der Zweifel und die Abwertung gegenüber der Sinneswelt, und damit einhergehend die Überbewertung unseres „Oberstübchens“: von Denken und Idee, insbesondere deren Tendenz zum Intellektuellen. Ein schiefes Verhältnis zwischen dem Sinnlichen und dem Gedanklichen prägt die gesamte abendländische Entwicklung. Allein im Geistigen des Begriffs, beziehungsweise der Idee sah man bei den genannten griechischen Philosophen das wirklich Seiende.
Butler eine „virtuelle Realistin“
In ähnlicher Weise wurde dann im Mittelalter das Göttliche und Heilbringende einseitig in einem weltfernen Jenseits verortet, die materielle Welt war nicht so wichtig. Daraus wurde in der Neuzeit die abstrakte Wissenschaft, bei der man etwa ab Newton „das Heil“ in der ebenso „jenseitigen“, für Normalmenschen unverständlichen mathematischen Sphäre sah, der profanen Version der mittelalterlichen Gottessphäre. Diesen Weg der Sinnes- und Naturferne setzen nun heute einerseits die „virtuellen Realisten“ fort, andererseits eben eine Judith Butler und die Genderisten, wenn sie die für die unbefangene Wahrnehmung gegebene natürliche Beschaffenheit des Körpers leugnen, das heißt in diesem Fall seine Geschlechtlichkeit.
Diese Geringschätzung gegenüber dem Gegebenen geht immer schon einher mit einer Übermachts- und Beherrschungstendenz. Wie diese im kirchlichen Mittelalter und im ideologisch unterfütterten Eroberungs- und Missionierungsdrang der Neuzeit ausgesehen haben, muß hier wohl nicht ausgeführt werden. Auch die Hexenverfolgung lag auf der Linie, die ja erst zu Beginn der Neuzeit und ihrer Verstandeskultur einsetzte. Auch hier wollte das vereinseitigte männliche Prinzip (des Verstandes) dem Weiblichen (nicht Beherrschbaren) den Garaus machen.
Die Entzweiung von Körper und Geist
Neu ist nun bei der Genderströmung, daß diese Unterwerfungstendenz von Außenwelt sich auf den eigenen Körper bezieht. Das ist ein gravierender Schritt dieser jahrhundertealten Strömung und man ist geneigt, die „alte Tradition“, in der er steht zu übersehen. Als Speerspitze davon sind zu nennen die Vorstellungen, die anscheinend wirklich einige Menschen haben, von der Kopfentscheidung her eine freie Körperwahl zu vollziehen, das heißt eine freie Entscheidung über die Geschlechtlichkeit, bei der dann auch das Zusammenschmelzen mit der Maschine eine Rolle spielen soll. So wie früher Kontinente und Kulturen brachial unterworfen wurden, so heute der eigene Körper. Wenn man das Lassen, Empfangen, Wahrnehmen dem weiblichen, das Machen, Verändern und Denken (Eindringen) dem männlichen Prinzip zurechnet, kann man dies als eine extreme Form des entgleisten Männlichen ansehen. Das weibliche Prinzip müßte sich eher durch Achtung vor dem Gegebenen ausdrücken. Eine Hybris des Denkens gegenüber der Naturzugehörigkeit und Geschöpflichkeit des Menschen, ein neuer Höhepunkt der Entzweiung zwischen Körper und Geist, bricht sich hier Bahn.
Auch Fichte ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Auch er befindet sich in gewisser Hinsicht auf der Linie, der ich hier Judith Butler zuordne. Er hatte ganz richtig die Überragende Bedeutung des Ichs erkannt, ist dann aber in seinem Denken etwas über die goldene Mitte hinausgeschossen, indem er nur noch das Ich als Wirklichkeit zulassen wollte und alles Nicht-Ich bloß als Material zu seiner Verfügung ansah. Es wurde ihm später, vielleicht nicht ganz zu unrecht, vorgeworfen, er habe dem ausbeuterischen Verhalten des Menschen gegenüber der Umwelt Vorschub geleistet. Eine gleiche Unwucht zwischen dem beherrschen wollenden Geist und der vorliegenden Erscheinungswelt besteht eben auch bei Judith Butler. Emperor müßte sie daher eigentlich heißen, denn kein Butler, also kein Diener, ist sie gegenüber der Außenwelt (zu der auch der körper gehört), sondern ein Verstandesherrscher. Das männliche Prinzip kommt heute oftmals als Wolf im Schafspelz daher.
Goethes Weg zur Erkenntnis
Ein ausgewogenes, wirklichkeitsgemäßes Verhältnis zwischen Denken (Geist) und Wahrnehmen (Stoff) findet man zum Beispiel bei Goethe. Er hat ein Denken, das zunächst ganz im Dienste der Beschreibung, das heißt der Wahrnehmung steht. Kein fremdes Ordnungsprinzip führt er in sie ein. Die Idee wird bei ihm nicht etwas das man sich „macht“, sondern etwas das man gewinnt. Kein Vergewaltigen des Materials durch die Vorstellung, sondern ein genügend langes Warten und Ordnen, bis einem die Idee wie beim Sterntaler die Sterne von allein in den Schoß fällt; bis die Erkenntnis reif geworden ist. Und diese reifgewordene Erkenntnis ist dann auch wirklich eine. Die zu früh herbeigewirkte „Erkenntnis“ bleibt eine (unreife) Vorstellung.
Womit wir wieder beim Genderismus wären: dem Diktat der Vorstellung über die Wahrnehmung – in seiner neuesten und vielleicht radikalsten und möglicherweise zugleich unentdecktesten Form.
(Judith Butler ist Professorin für Rhetorik in Berkeley, USA und gilt als Hauptinitiatorin der sogenannten „Gender“-Bewegung.)