von Gabriel Stängle (mit freundlicher Genehmigung der Tagespost)
Wenn heute von Vielheit gesprochen wird, ist Konformismus gemeint: Bei Ehe, Familie und Person stehen die Identitäten zur Diskussion.
Frank Walter Steinmeier beschrieb in einem Artikel in der FAZ vom 5.11.2016 eindrücklich eine „tödliche Gefahr für unser politisches Gemeinwesen“. Die aktuellen Debatten würden nicht mehr auf der Grundlage von Fakten geführt. Die digitale Revolution und mit ihr das Schrumpfen von Zeit und Raum führe zu objektiven Überforderungen und produziere Gegenreaktionen: „Angst vor Identitätsverlust, Rückbesinnung auf Nation, Ethnie, Religion, auf das, was leichter Sicherheit und festen Boden unter den Füßen verschafft.“ Was Steinmeier hier in erstaunlicher Offenheit formuliert, ist der Krisenzustand einer Politik der Entgrenzung.
In unserem Land macht sich ein wachsendes Unbehagen unter denjenigen breit, die sich ausgegrenzt und abgehängt fühlen. Dabei scheint auf den ersten Blick anachronistisch zu wirken, was der Mainzer Historiker Andreas Rödder über unsere Gegenwart unter dem Begriff der Kultur der Inklusion beschreibt. Inklusion, das ist „wenn Ausnahmen die Regel werden“. Dazu gehört das Diversity Management, die Antidiskriminierung, Anerkennung und Förderung von Verschiedenheit, die aktive Gleichstellungspolitik und Gender Mainstreaming. Wie ist es dazu gekommen? Der allgemeine Rahmen, wie geredet, gedacht und gehandelt wird, hat sich verschoben. Im Hinblick auf die Begriffe von Inklusion, Gender und Diversity haben die akademischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre in den USA und Frankreich eine große Wirkung gezeigt. Zwischenzeitlich sind sie in die Breite der Gesellschaft und der politischen Entscheidungsprozesse eingesickert, haben erfolgreich den Gang durch die Institutionen gemacht und haben neue Denkweisen, Sprachmuster und Handlungsrahmen hervorgebracht. Der religionspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, hat letztes Jahr auf einer Veranstaltung des Deutschen Evangelischen Kirchentags gesagt: „In den letzten Jahren sind wir“, und damit meinte er die schwul-lesbische Bewegung, „hegemonial geworden“. Sie haben die Vorherrschaft – sprachlich, medial und in Baden-Württemberg in den letzten fünf Jahren auch politisch. Giovanni di Lorenzo hat in der „ZEIT“ vom 28.9.2016 die „kulturelle Hegemonie“ der Grünen einer Kritik unterzogen, in der er diese unter anderem mitverantwortlich für den Aufstieg der AfD machte.
Was kennzeichnet diese Hegemonie? Der erste Schritt ist, die Definitionshoheit über die Sprache zu gewinnen. Rationale Debatten über Sinn, Ziel und Umfang über Problemfelder werden so unterbunden. Ein Beispiel ist das geflügelte Wort der Willkommenskultur im Herbst letzten Jahres. Die Worte, die im Bereich Gender- und Gleichstellungspolitik eine Diskussion unterbinden, sind die Worte Akzeptanz und Vielfalt. Der politisch links besetzte Begriff der Vielfalt stellt ein diffuses, real nicht existierendes Gegenteil von Einfalt dar, das konservativ besetzt wird. Jedoch ist die Parole der Vielfalt zur förmlichen Ablehnung der real existierenden Form von Vielfalt geworden.
Die Rede von Vielfalt, Diversität und dergleichen ist ein klassischer Fall von Neusprech, das George Orwell in seinem berühmten Roman „1984“ beschrieb. Denn Vielfalt heißt im Klartext Konformismus. Deshalb sind in politisch korrekten Themenfeldern keine Diskussionen möglich. Die Ausschläge sind besonders heftig, wenn die Themen in Frage gestellt werden. Der Soziologe Friedrich Pohlmann hat in einem Essay über „Konformismus. Warum wir am liebsten bei der Mehrheit sind“ gezeigt, dass es bei folgenden Themen äußerst heftige Ausschläge gibt, wenn sie außerhalb des politisch Korrekten geäußert werden: 1. bei den Kriegen im Nahen Osten, 2. der Europäischen Union und Krise um den Euro, 3. der Masseneinwanderung, und damit verbunden dem Verhältnis zum Islam, 4. bei Geschlechterbeziehungen und sexuellen Präferenzen, sowie 5. der Beziehung zum Nationalsozialismus. Die kulturelle Hegemonie beginnt sprachlich, wird medial vermittelt und wird schließlich politische Realität. Seit 2011 lässt sich das anschaulich in Baden-Württemberg in verschiedenen Bereichen studieren.
Die Verschiebung des Denk-, Sprech- und Handlungsrahmens lässt sich an einem einfachen Beispiel aufzeigen. Bis vor wenigen Jahren war es üblich, dass eine Lehrkraft jeden Morgen in einem Klassenzimmer die Anwesenden mit „Liebe Schüler“ begrüßte. Dabei wurden nicht nur Jungen, sondern auch die Mädchen inklusiv mitgedacht. Heute ist die Anrede „Liebe Schülerinnen und Schüler“ üblich, weil so auch die Mädchen sprachlich nicht unsichtbar bleiben. Seit nunmehr 40 Jahren hat sich im feministischen Sprachhandeln das Binnen-I breitgemacht, das in letzter Zeit auf Grund der grammatikalischen Sperrigkeit kritisiert wird. Einen weiterführenden Vorschlag hat die Berliner Professorin Lann Hornscheidt gemacht. Sie möchte nur noch mit dem geschlechterneutralen Profx angesprochen werden. Der Morgengruß im Klassenzimmer würde dann wohl Schülx heißen, was vielleicht im Geschichtsunterricht der 6. Klasse über „Gallier und Römer“ für ein Schmunzeln sorgen könnte. Klar ist aber, dass Sprache immer auch die Wirklichkeit prägt. Deshalb sind die Begriffe in geschlechterpolitischen und bildungspolitischen Diskussionen bei weitem nicht eine neutrale Beschreibung der Wirklichkeit. Sie dienen als gesellschaftspolitische Ziele. So stellen beispielsweise die Begriffe Inklusion, Gender, Diversity, Gemeinschaftsschule und Akzeptanz von Vielfalt viel mehr dar, als die Integration der bislang Benachteiligten in die bürgerlich-liberale Ordnung. Die Konzepte der gegenwärtigen Bildungspolitik sind durchgehend von einer theologischen Sprache im säkularen Gewand durchdrungen. Dabei handelt es sich entweder um schöpfungstheologische oder um Heilsbegriffe: Inklusion – keiner soll ausgegrenzt und verloren gehen; Vielfalt – spiegelt die Diversität der Schöpfung wider, und sexuelle Identität zeigt die Sehnsucht nach Annahme und Zuspruch. Nicht die Integration in die bürgerlich-freiheitliche Ordnung, sondern deren Überwindung ist das, worauf die Veränderung zielt.
Die zentralen Orte dieser Veränderung sind die Schule und die Familie. Die Schule, in der die Erziehung weitgehend abgeschafft, sowie Bildung durch Kompetenzerwerb verdrängt wird und die Emanzipation als revolutionäres Programm auftritt. Die Familie, genauer die Zerschlagung der bürgerlichen Familie, ist der zweite Ort der kulturrevolutionären Veränderung. Der Chef der Berliner Grünen, Daniel Wesener, sagte dem „Tagesspiegel“ vom 2.9.2016 in einem Interview über queere Politik auf die Frage, ob es nicht etwas Komisches habe, dass die progressiven Grünen für so etwas sehr Konservatives wie das Institut der Ehe kämpften: „Eigentlich ist auch mir das Fernziel wichtiger als das Nahziel: das Institut der Ehe zu überwinden. Steht es nicht für eine Gesellschaft, die sich nur über zwei Geschlechter definiert, mit all der historisch-religiösen Begleitmusik? Ich bin kein Freund der Ehe, ich bin auch nicht verheiratet. Aber am Ende soll jeder selbst entscheiden, ob er diesen Weg geht. Vielleicht leben wir ja eines Tages in einer Gesellschaft, in der es statt der Ehe Familienverträge gibt.“ Die Konsequenz dieser Politik ist deutlicher, als dies der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann mit seinem Plädoyer der Ehe für alle verschleiert. Es ist die innere Auflösung der Gesellschaft als Gesellschaft, durch den übertriebenen Kult um den Einzelnen, der nirgendwo besser deutlich wird als in der Verklausulierung des Konzepts Akzeptanz von Vielfalt und den Ruf nach LSBT-Rechten.
Die Denkrichtung, die hinter diesen Veränderungen steht, ist der postmoderne (De)konstruktivismus. Der besagt, dass alles ein Produkt von Kommunikation und kommunikativ verhandelter Sinnzuschreibung ist. Der Konstruktivismus stellt alles in Frage: Ehe, Familie, das Wesen der Person und das Gewissen, Recht und Werte, die Unterscheidung von wahr und falsch, letztlich auch von gut und böse. Am deutlichsten wird es bei den Themen Nation, Schule & Unterricht, Ehe & Familie und der Frage nach den Geschlechtern. Alle diese Themen stiften Identität. Wo diese aufgebrochen werden, wird Identität verwischt, neu erfunden oder zerstört. Wenn es um die Nation geht – Stichwort Massenzuwanderung. Wenn es um Unterricht und Schule – Stichworte neue Lernkultur und Gemeinschaftsschule. Wenn es um die Familie geht – Stichworte Fremdbetreuung und Ehe für alle, und wenn es um die Geschlechter geht – Stichwort: grün-rote Aktions- und Bildungspläne, die die Akzeptanz sexueller Vielfalt propagieren.
Worin Steinmeier die „tödliche Bedrohung“ für unsere Demokratie wahrnimmt, wird in vielen Milieus und den Massenmedien als etwas Fortschrittliches gefeiert: Es ist die Rhetorik der Grenzüberschreitung, der Entgrenzung, der Grenzüberwindung. In Politik, Massenmedien und Kulturwissenschaften ist die binäre Definition des Grenzphänomens einer Auffassung von Grenzen als Räumen gewichen: Räume des Übergangs, des Sich-Vermischens, der Akzeptanz von Vielfalt. Am Deutlichsten wird dies an den verschiedenen pädagogischen Ideologien, die alle Inklusion ohne Exklusion fordern, oder den Gender-Theorien mit der Auflösung der binären Orientierung von Mann und Frau. Die Auswirkungen der Politik der Entgrenzung auf Gesellschaft, Wirtschaft und Familien zeichnen sich jetzt schon ab: Es ist ein Mensch, der seiner natürlichen Umwelt entwöhnt ist, eine Person, die in allen möglichen Bereichen, die ihr in ihrer Identitätsfindung Orientierung geben, unter Beschuss steht. Ein Mensch, der schon in seiner frühesten Kindheit hoch traumatisierende Erlebnisse verarbeiten muss. Ein Schüler, der nicht mehr Subjekt des Bildungsprozesses ist, sondern sich an eine neoliberale Konsumwelt gewöhnt. Kurz: Es ist der autonome Mensch.
Alexis de Tocqueville hat in seinem Werk über die Demokratie in Amerika eine Gesellschaft vorausgesehen, in der apolitische, privatisierte Einzelne sich einem sinnlosen, nur auf materielle Genüsse ausgerichteten Leben hingeben. In dieser Gesellschaft leben die Menschen einsam um sich selbst kreisend und sind nicht mehr fähig, den Anteil an Aktivität und Einsatz zu erbringen, ohne die auf Dauer keine Demokratie überleben kann.
Wir brauchen, was den Begriff der Grenzüberschreitung angeht, eine Unterscheidung von frontier und barrier. Das Englische unterscheidet zwischen diesen Begriffen: Frontier meint die Grenze, die wir immer weiter dehnen, verschieben, oder auch sprengen. Sie treibt uns zu Höchstleistungen in Bildung, Sport, Wissenschaft und Kunst. Die barrier dagegen ist die Grenze, die uns kostbar ist. Sie schützt uns. Solch eine Barriere ist unsere Haut, genauso der Spamfilter im Laptop, Gartenzäune, Staatsgrenzen, sowie Normen und Gesetze. Sie alle geben uns das Gefühl von Sicherheit.
In historischer Perspektive wird deutlich, dass alles möglich ist und das innerhalb kürzester Zeit. Entgrenzung – das, was vor kurzem noch unvorstellbar war, kann in einiger Zeit gängige Praxis sein. Rödder hat dies 2008 treffend beschrieben: „Die allgemein akzeptierten Werte sind die Vor-aussetzung für Barrierefreiheit für Behinderte oder für die Tötung sogenannten ,menschenunwerten Lebens‘, für gender mainstreaming ebenso wie für Kinderlosigkeit als normal gewordene Lebensform, für Antidiskriminierung, Straffreiheit von Abtreibung oder Toleranz – sie bedingen, alles zusammen und ganz zugespitzt, Menschenrechte ebenso wie Massenmord.“ Der Rahmen der allgemein akzeptierten Werte und die daraus abgeleiteten Normen sind kollektiv handlungsleitend. Weil es in unserem scheinbaren „postfaktischen Zeitalter“ keine überzeitlichen, unverrückbaren gültigen Werte gibt, müssen die allgemein verbindlichen Werte gesetzt werden. Das ist die zentrale Herausforderung schulischer Bildung heute, die auch Steinmeier richtig erkannt hat: „Wir müssen in unsere Urteilskraft investieren, in jene Institutionen und Systeme, die in unseren Gesellschaften ,Wahrheit produzieren‘: Schulen, Wissenschaft, Justiz, aber auch die Medien.“
Der Autor ist Realschullehrer und Theologe. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Der Bildungsexperte initiierte die Petition „Zukunft – Verantwortung – Lernen“ zum baden-württembergischen Bildungsplan.