Wussten Sie das?
– Im Juni 2013 tötete die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram 42 Jungen bei einem Angriff auf eine Schule: Die Jungen wurden zusammengetrieben, dann warfen die Mörder Sprengstoff auf sie.
– Im September 2013 griffen Boko Haram-Terroristen nachts das College of Agriculture in Gujiba, Nigeria, an – sie attackierten gezielt die Schlafsäle der jungen Männer und töteten 44 von ihnen.
– Im Februar 2014 wurden 59 Jungen einer nigerianischen Internatsschule von Terroristen der Boko Haram erschossen oder bei lebendigem Leib verbrannt. Die Mädchen der Schule ließen die Terroristen frei.
– Ebenfalls im Februar 2014 überfielen Boko Haram-Terroristen das nigerianische Dorf Izghe, massakrierten dort über mehrere Stunden die männliche Bevölkerung, auch Jungen oder Babys. Unter den 106 Toten waren 105 männlich, und eine war eine Frau, die versucht hatte, ihren Enkel vor den Massenmördern zu schützen.
– Im Mai und Juni 2014 begingen Boko Haram-Terroristen über viele Tage lang Massaker in verschiedenen Dörfern im Nordosten Nigerias. Die Terroristen traten zunächst als Soldaten auf, die vorgaben, die Bevölkerung vor Attacken Boko Harams schützen zu wollen – sie führten gezielt Männer und Jungen zusammen und eröffneten dann das Feuer auf sie. CNN spricht von etwa 400 bis 500 Toten.
Die Liste der Verbrechen der islamistischen Terrorgruppe könnte leicht fortgesetzt werden. Über all diese Verbrechen wurde zwar vereinzelt auch in den Nachrichten europäischer oder amerikanischer Medien Europas oder Amerikas berichtet, darüber hinaus erregten sie dort allerdings kaum Aufmerksamkeit.
Boko Haram wurde für eine weite Öffentlichkeit erst interessant, als die Terroristen der Gruppe im April 2014 eine Schule in Chibok, ebenfalls im Nordosten Nigerias, überfielen, 276 Mädchen entführten und ankündigten, sie als Sklavinnen zu verkaufen. So berichtete damals Spiegel-Online: „Ihre Kämpfer haben Kirchen angegriffen, Schulen überfallen, Selbstmordattentäter in vollbesetzte Pendlerbusse geschickt und ganze Dörfer niedergemetzelt. Mehrere tausend Menschen sind dabei seit 2010 getötet worden. International hat jedoch erst die Entführung der mehr als 200 Mädchen im April für größeres Aufsehen gesorgt.“
Dass es nicht immer nachvollziehbar ist, warum bestimmte Geschehnisse plötzlich Menschen überall auf der Welt interessieren, erregen oder bestürzen, während ganz ähnliche oder schlimmere Geschehnisse bei den meisten Erregten nicht einmal über die Wahrnehmungsschwelle gelangen – das ist nichts Neues. Hier aber ist die massive Spaltung der Aufmerksamkeit auffällig, weil es deutlich ist, dass sie genau zwischen den Geschlechtern verläuft – zwischen den Geschlechtern der Opfer nämlich.
Das Blog Toy Soldiers fragt: „Falls dich die Entführung von 300 Mädchen aufgebracht hat, wie kannst du dann ruhig bleiben, wenn dieselbe Gruppe 500 Männer und Jungen ermordet? „Über die von Boko Haram ermordeten Männer und Jungen – so der Videoblogger von Humanity Bites – wolle niemand reden: „Die Medien schweigen. Die UN schweigt. Sogar die sonst so gesprächige Mrs. Obama schweigt. Es ist, als hätten diese Jungen und Männer nie gelebt.“
Um zu erklären, warum das so ist, hilft ein Blick in eine deutsche Stadt – nach Darmstadt. An der Technischen Universität in Darmstadt lehrt die Philosophie-Professorin Petra Gehring. Sie berichtet in Alice Schwarzers Zeitschrift EMMA darüber, dass sie einen Traum hat: „Ein Weltgastrecht für weibliche Flüchtlinge aus Kriegsgebieten.“ Es ist bei der Gelegenheit natürlich von großer Bedeutung, festzuhalten: „Für die Frauen ist der Horror am größten.“
Mit der Idee, dass Kriege Männersache seien, beginnt schon Margarete Mitscherlich ihre problematische Schrift „Die friedfertige Frau“, die selbst dem nationalsozialistischem Antisemitismus humane, ja liebevolle Seiten zuschreibt – solange es eben nur der Antisemitismus von Frauen ist. Eben die Gegenüberstellung des friedfertigen, zivilen weiblichen Opfers und des aggressiven, kriegerischen männlichen Täters rechtfertigt bei Gehring die Forderung eines exklusiv weiblichen „Weltgastrechts“.
Dass diese Gegenüberstellung wesentlich weniger über Kriege und Gewalt in Afrika aussagt als über den westlichen Blick darauf, stellte allerdings Simone Schlindwein ausgerechnet in der taz klar: „Unter uns, die wir schon seit vielen Jahren über den Kongo berichten, ist ein Running Gag besonders beliebt: ‚Kommt ein Filmteam in den Dschungel geflogen und sucht eine vergewaltigte Frau. Es geht zum Dorfältesten und fragt ganz diskret nach. Der bestellt alle Dorfbewohner ein und spricht: ’Wer jemals Opfer sexueller Gewalt geworden ist, erhebe sich!‘ Alle stehen auf. Auch die Männer.‘ Das ist nicht nur ein Witz, sondern auch die bittere Wirklichkeit.“
Bei Petra Gehring hingegen ist die Welt noch in Ordnung, sauber aufgeteilt in männliche Täter und weibliche Opfer. Selbst bei Kindern fordert sie exklusive Rechte weiblicher Kinder, was eine Verweigerung der Hilfe für männliche Kinder wie selbstverständlich einschließt. Diese Selektion rechtfertigt sich nicht einmal mehr durch die Vorstellung, den erwachsenen Tätern Hilfe zu verweigern – hier erscheint schon die Männlichkeit an sich als Problem, von dem dann eben auch schon die Jungen affiziert sind.
Auch, nachdem Boko Haram schon in westlichen Medien bekannt geworden war, und nachdem jeder Interessierte wissen konnte und musste, dass die Terrororganisation oft sogar spezifisch gegen Jungen extreme und massenhafte Verbrechen verübt – auch dann noch war und ist das gewissenhafte menschenrechtliche Engagement ganz auf die entführten Mädchen fixiert.
Im Morgenmagazin der ARD war beispielweise in dieser Woche Ify Elueze zu Gast, die Urheberin der BringBackOurGirls-Petition. Sie erzählte, dass die Entführung der Mädchen durch Boko Haram ein Thema sei, das die Aufmerksamkeit aller verdiene – machte deutlich, wie erleichtert sie sei, dass die Welt endlich zuhöre – wie wichtig es sei, das Mitgefühl der Welt zu wecken – und dass sich doch auch Männer vorstellen könnten, wie es sei, wenn sie Töchter hätten und denen ähnliches zustieße. Auch der Moderator Sven Lorig machte wie selbstverständlich nicht darauf aufmerksam, dass die von Boko Haram ausgeführet Gewalt in Nigeria keineswegs so geschlechtsspezifisch ist, wie Elueze das suggerierte – und dass durchaus auch Eltern von Jungen gewichtige Gründe haben, sich große Sorgen zu machen.
Wie die Gewalt in Nigeria von westliche Medien wahrgenommen wird, sagt eben nicht nur etwas über diese Gewalt aus, sondern auch, und womöglich mehr noch, über die westliche Wahrnehmung – und darüber, dass sich westliche Öffentlichkeiten weitgehend daran gewöhnt haben, Gewalt nur noch in einer irrationalen geschlechtsspezifischen Orientierung wahrzunehmen. Als ob Gewalt nur dann Gewalt wäre, wenn sie eine Gewalt von Männern an Frauen ist.
Eine solche Spaltung der Humanität aber ist nun einmal keine halbe Humanität, sondern eine ganze Inhumanität. Wer Menschenrechte nur selektiv akzeptiert, akzeptiert sie überhaupt nicht – denn es ist ja gerade ihre Pointe, dass sie für alle gelten, unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit und anderen spezifischen Merkmalen. Die narzisstische Inhumanität der Darmstädter Philosophie-Professorin in der Tradition Mitscherlichs und die eitle Inhumanität der BringBackOurGirls-Selbstdarsteller ignoriert nicht nur das Schicksal und das Leid von Jungen – sie ignoriert sogar noch diese Ignoranz. Jungen werden nicht nur völlig vergessen, es gerät auch nicht einmal mehr in den Bereich der Wahrnehmung, dass hier überhaupt jemand vergessen wurde.
Das ungekürzte, bebilderte und mit Links auf die zitierten Texte versehene Original dieses Beitrags wurde in Lucas Schoppes Blog „Man Tau“ veröffentlicht: http://man-tau.blogspot.de/2014/06/ok-kill-their-boys-bring-back-our-girls.html. Die Kürzungen wurden von Arne Hoffmann vorgenommen.