von Dr. habil.
Wulf Krause Wulf Krause ist Soziologe in Hannover. Er besitzt die venia legendi für allgemeine Soziologie. Seine Forschungen umfassen allgemeine Gesellschaftstheorie, wissenschaftliche und wissenschaftlich-technische Innovationsprozesse und Entwicklung der konkret-allgemeinen Produktivkräfte, Philosophie und philosophische Anthropologie, Existenzphilosophie in daseinsanalytischer und phänomenologischer Richtung, soziale Anthropologie der Technik: Gleichursprünglichkeit von Werkzeug und Sprache, Evolutionstheorie und Evolution des Sozialen: Kampf, Gemeinschaft, Gesellschaft, Evolution der Kooperation, Soziologie des Geschlechts, das Männlichsein.
Männlicher Kontrollverlust über die Fortpflanzung?
Ach, ja! Wie sagte Paul Mason das noch? Mit der Pille sei ein „Reproduktionsschock“ bei den Männern ausgelöst worden, der eine „tiefsitzende Angst freisetzt und unerschlossene Reserven für Frauenfeindlichkeit“ erschließt. Seit 40.000 Jahren hätten Männer die Kontrolle darüber, wer mit wem, wann und wie Sex hat, also wer wann mit wem Nachwuchs produziert.
Seine Behauptung: „Man gibt nicht eine 40.000 Jahre alte, biologisch gesteuerte soziale Kontrolle auf.“ Das ist der „reproduktive Schock“, der mit Einführung der Pille und der ökonomischen und sexuellen Befreiung der Frauen bei den Männern ausgelöst wird, der drohende Verlust der „biologisch gesteuerten sozialen Kontrolle“. Und nun müssen wir, wie schon angekündigt, doch ins wissenschaftlich Grundsätzliche.
Wissenschaftliche, biologische Fragen
Es stellen sich zwei Fragen: die erste ist terminlogischer Art, und bezieht sich auf das Wort „Reproduktion“; seine Verwendung impliziert Konsequenzen für die Geschlechterauffassung. Die zweite Frage bezieht sich auf die von Männern vollzogene „biologisch gesteuert soziale Kontrolle“. Trifft diese Behauptung zu, und worin besteht in der „sozialen Kontrolle“ dabei das Biologische?
Wir werden also im wissenschaftlichen Terminologischen grundsätzlich und danach begrifflich im Biologischen.
Also zuerst das Terminologische: Irgendwie scheint Paul Mason in seiner Argumentation einer falschen, aber sich hartnäckig haltenden, theoretisch angeblich an Marx orientierten Unterscheidung zu folgen, der zwischen „Produktion“ und „Reproduktion“. Mit dem ersten Wort wird in der Regel menschliche Arbeit bezeichnet, die etwas hervorbringt oder herstellt. In der Regel beschäftigt das Männer.
Das zweite Wort, „Reproduktion“ meint die sexuelle Reproduktion. Das beschäftigt in der Regel Frauen, genauer Mütter. Und tatsächlich haben Männer mit Ausnahme ihrer Samenspende biologisch wenig bis nichts damit zu tun. „Kannst du behalten und die Frucht auch.“ Die Mütter tragen die ganze Last: Prokreation und Aufzucht des Nachwuchses bis zur Geschlechtsreife der Töchter, die nun, selbst Nachwuchs hervorbringen können und zur Geschlechtsreife der Söhne die nun fähig sind, für diesen Zweck Samen zu spenden. Prokreation und Aufzucht, das ist die Arbeit der Frau.
Diese Unterscheidung von ‚Produktion‘ und ‚Reproduktion‘ reflektiert sehr gut die Trennung der Geschlechter: Die einen machen Kohle für die Lebensmittel, die anderen machen Kinder. Die einen können das ganz gut, weil sie selber keine Kinder kriegen können, – das Kohlemachen. Die anderen können das Kohlemachen weniger gut, weil sie besser im Kindermachen sind.
Ich meine, Paul Mason wird einer solchen rigiden „Arbeitsteilung der Geschlechter“ nicht folgen wollen. Dann muss er aber seine Sympathie für die „ökonomische und sexuelle Befreiung der Frauen“ nicht allein in seinem Herzen bewegen, sondern die Begriffe, die er für seine Analyse verwendet, genau fassen. Das empfiehlt sich in diesem Fall besonders, ist es doch das vorzügliche Werk des Wissenschaftlers.
Die “Produktion des Lebens” bei Marx
Schauen wir bei Marx, auf den sich ja auch Mason bezieht. Marx selber reflektiert auf beide Prozesse, erkennt sie als unterschieden, aber nicht getrennt. Was für eine schöne dialektische Denkfigur: In-sich-unterschiedene-Einheit, ‚diaphero eanto‘, in sich unterschiedenes Seiendes, nannten die Griechen das.
Marx sieht beide Prozesse im Zusammenhang des Lebens, des menschlichen Lebens. Das ist, wie Marx ihn versteht und wie könnte es anders sein, ein Prozess der Produktion, nämlich der „Produktion des Lebens, des eigenen in der Arbeit, des Fremden in der Zeugung“. Dabei kommt Marx natürlich nicht auf die Idee, die eine den Männern vorzubehalten und die andere den Frauen, denn mit beidem, der Produktion des eignen und der Produktion des fremden Lebens sind beide befasst; ihr Nachwuchs ist Gemeingut.
Der Prozess der Produktion des Lebens vollzieht sich in kooperativen Leistungen, Teilen und Helfen. Nicht ‚Produktion‘ und ‚Reproduktion‘, sondern kooperierendes Verhalten von Männern und Frauen bei der Produktion des Lebens, des eigenen in der Arbeit sowie des fremden menschlichen Lebens in der Zeugung, das ist eine richtige, das heißt sachgemäße Unterscheidung.
Von hier aus kann man auch besser über Gleichheiten und Unterschiede der „Geschlechter“, sprechen, über das Teilen von Nahrung oder Arbeiten und von Segregation und Zusammenarbeit in funktional differenzierten Tätigkeiten durch Männer und Frauen.
Biologisch gesteuerte Kontrolle der Männer über den Sex der Frauen?
Aber weiter: Paul Mason behauptet, seit 40.000 Jahren habe eine „biologisch gesteuerte soziale Kontrolle” der Männer darüber geherrscht, mit wem, wann und wie die Frauen Sex haben, d. h. Nachwuchs produzieren. Das ist tatsächlich eine steile These! Vor 40.000 Jahren, das ist der Zeitpunkt, zu dem die paläontologischen Funde eindeutig darauf hinweisen, dass die Neandertaler aussterben und der gleichzeitig existierende Cromagnon als Vorfahr und Ursprung auch des modernen Menschen, homo sapiens sapiens nachzuweisen ist.
Also mit Entstehung des Menschen, von Anfang an, existiere die Herrschaft der Männer über die Frauen und diese Herrschaft sei „biologisch gesteuert“. So lautet Masons Behauptung.
Fragt sich nur, wie die Sicherung funktioniert und dann versagt, wenn das Biologische im Verständnis des Feminismus, den Paul Mason in dieser Frage offensichtlich teilt, ewig und unveränderlich ist und eben deshalb die Herrschaft der Männer gesichert bleiben müsste.
Ein fundamentaler Irrtum: Koitus als Gewaltverhältnis
Dieser Behauptung liegt ein fundamentaler Irrtum zugrunde. Nämlich der Glaube, es seien die Männer, die darüber herrschten, wer mit wem, wann und wie die Frauen Sex haben und Nachwuchs produzieren.
Diesen Irrtum teilt Paul Mason mit dem radikalen Feminismus der Siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und der hält sich durch bis hin zur Genderdoktrin. Es ist der Fundamentalirrtum des Feminismus.
Der Irrtum geht auf Shulamith Firestone zurück, die gegen Friedrich Engels, dem Godfather des Feminismus, argumentiert, der Klassenkampf sei kein soziales, kein ökonomisches Verhältnis, sondern ein biologisches. Der wahre Grund und Ursprung, aber nicht zuerst, des ökonomischen Klassenkampfes sei der Geschlechterkampf, sein Kern: Der Koitus unter der Dominanz des Mannes; der Koitus ist ein Gewaltverhältnis.
So findet sich das bei Firestone und andren bis heute. Und die Frau ist immer Opfer des Mannes: Geschlechtsverkehr ist Vergewaltigung, selbst einvernehmlicher Geschlechtsverkehr ist Vergewaltigung, Männer sind Vergewaltiger und sonst nichts (McKinnon, Marilyn French und viele andere). Von Firestone über McKinnon, Foucault bis hin zu Butler reicht das und natürlich zu Alice Schwarzer: „Das soziale Konstrukt ‚Mann‘ ist Gewalt“, sagte sie erst kürzlich im SPIEGEL.
Das ist eine Art Axiom des Feminismus und der Genderforschung. Und die Definition der Geschlechterdifferenz als hierarchisch enthält das noch, aber das ist eine willkürliche axiomatische Setzung.
Dieses Bild hat Donald Trump schön bedient mit seinem „pussy grab“-Gerede und seinem Chauvi-Geschwätz. Und die feministische „political correctness“ schlug hohe Wellen – einem Tsunami gleich.
Nicht allein der im Kern „rassistische“ Verrat der Weißen an den Schwarzen und den übrigen Ethnien in Amerika, viel schwerer noch wiege der „Genderverrat“, der in tiefsitzender Angst vor der Frau gründe und als Feindschaft zur Frau zutage trete, der „Reproduktionsschock“, da ist er: sexueller Klassenkampf! Genderverrat ist Klassenverrat. Für Klassenverrat starben unter Stalin Menschen zu Millionen! Es lebe der „Feminismus-Leninismus“, er lebe hoch! Hoch! Hoch!
So viel zu den vielleicht nicht allein begrifflichen, sondern auch „performativen“, wie Judith Butler sagt, zu den performativen Konsequenzen der Unterscheidung von „Produktion“ und „Reproduktion“.
Nun zu der zweiten Frage: Trifft es zu, wie Paul Mason behauptet, das es die Männer sind, die darüber bestimmen, mit wem, wann und wie eine Frau Sex hat, also auch Nachwuchs produziert? Diese Frage kann allein im Horizont jenes schönen dialektischen Gedankens der Einheit und des Unterschiedes in der Produktion des Lebens und der Lebenswissenschaft erschlossen werden.
Soziales und biologisches Geschlecht
Dies empfiehlt sich in einer anderen Weise als in der Gender-Geschlechtertheorie. Die unterscheidet bekanntlich das biologische Geschlecht „sex“ vom sozialen Geschlecht „gender“. Das Soziale, sagt Luhmann, ist Kommunikation, und Kommunikation ist Anschlussfähigkeit; also, mit welchem Wort, welchem Zeichen schließe ich meinen nächsten Gedanken an den eben formulierten Gedanken an, oder welche Zeichen ermöglichen mir, Anschluss an eine von mir begehrte Person zu finden? Das ist Kommunikation, dafür bedarf es der Zeichen der Liebe.
So ist das soziale Geschlecht kommunikatives Geschlecht. Geschlecht in diesem Sinne ist kommunikativ, keine Eigenschaft von Körpern, ist kein „Geschlechtsmerkmal“. „Genderdisplay“ nennt das Goffman. Es ist Zeichen, ist die Art und Weise, wie sich Geschlecht zeigt (gr. ‚phainestai‘), genauer, wie sich das Geschlecht der einen Person einer anderen Person zeigt und wie es wahrgenommen, erkannt, verstanden und in einem sozialen, einem interaktiven Liebesverhältnis realisiert werden kann.
Dafür ist das Biotische möglichst unwichtig, alles sozial konstruiert. Das Zeichen ist „Phainomenon“, ist „Erscheinung“, also „Geschlecht erscheint als…“. Dem entspricht Goffmans Wort „Genderdisplay“, wörtlich Genderanzeige. Besser trifft, was hier gemeint ist aber das grammatisch reflexive und relational selbstreferenzielle „sich zeigen“, das dem griechischen „phainestai“ entspricht und das Relationale, Relative der „Geschlechterverhältnisse“ begrifflich ermöglicht.
So wird verständlich: soziologisch ist Geschlecht keine Sache, die logisch ein „Subjekt mit Prädikat“ ist, Geschlecht ist kein ‚Ding mit Eigenschaft‘, Geschlecht ist soziologisch ein Verhältnis, ein soziales, ein Kommunikationsverhältnis, und logisch ist es eine „Relation geordneter Paare“, eine „Ordnungsrelation“, genau wie die Relation geordneter Paare infinitesimal kleiner Raum- und Zeitpunkte in der Gleichung der gleichförmig beschleunigten Bewegung in der dynamischen Mechanik.
“Äqulivalenzrelationen” bei Marx
Darüber kann man ökonomisch von Marx und seinen „Äquivalenzrelationen“ und mathematisch bei Gottlob Frege eine Menge lernen, aber soziologisch vor allem von Berger-Luckmann über die „soziale Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ und von Irving Goffman, kann man lernen, „wie alle Theater spielen“ oder welche Zeichen einen als „nigger“, als „schwul“ „stigmatisieren“ – sehr klug, sehr schön. – Eine Person zeigt sich und erscheint als eine Frau, eine Person zeigt sich und erscheint als ein Mann, egal, was „zwischen den Beinen“ ist.
Und für einige ist das dann manchmal verbunden mit einer großen Überraschung – oder gerade eben nicht. Die Person erscheint so, wie sie sich selbst versteht und von allen verstanden werden möchte und sie erscheint, wie sie sich fühlt; so sehr wünscht sie das, dass manche von ihnen sich auch körperlich zu dem machen lassen, was sie sein möchten, bis sie sich identisch mit sich selbst wissen. Und auch sie möchten sich geliebt wissen, wie die Kinder, wie wir alle, von allen. Das alles hat nichts mit Fortpflanzung zu tun. Hier geht es um Begehren.
Aber bei der Antwort auf Paul Masons Frage, wer darüber bestimmt, gar darüber herrscht, wer mit wem und wie Sex hat, muss über Sex/Gender anders gesprochen werden. Hier geht es um Paarung. Wie vollzieht sich Paarung?
„Gleichgeschlechtliche Individuen konkurrieren untereinander (intrasexuelle Konkurrenz) um Paarungen mit Angehörigen des anderen Geschlechts (intersexuelle Paarung). Der Verlierer hinterlässt wenige oder keine Nachkommen.“
Benachteiligte Männer
So sagt es die Verhaltensbiologin und Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy in ihrem sehr schönen Buch „Mutter Natur. Die andere Seite der Evolution“ von 1999. Das ist dem Autor auf Deutsch im Juni 2000 begegnet, als er aus ganz anderen Gründen über die oft traurigen „benachteiligten“ Männer, deutsche und nichtdeutsche, einheimische und zugewanderte Männer in den „benachteiligten“ Stadtteilen oder an den Bierbuden und Plätzen Hannovers nachdenken musste, die so anders und viel weniger aktiv waren, als ihre Frauen sofern sie welche hatten. Was unterscheidet sie?
Die waren jeder Zeit bereit, sich in Bewegung zu setzen, Deutsch zu lernen oder wie man schneidert, gut und preiswert kocht, nicht nur in der eigenen kulinarischen Tradition, auch in denen anderer, fremder Kulturen, zu lernen, wie man mit Deutschen, Männern und Frauen, und deutschen Behörden umgeht und mit den eigenen Männern und wie andere Frauen es anders machen oder irgendwelche anderen Aktivitäten für sich und ihre Kinder initiieren oder daran teilnehmen.
Nur ihre Männer, sie sind deprimiert und traurig, wenn sie sich nicht als Männer beweisen können, Frauen müssen das nicht, sich als Frauen beweisen, entmutigt sind die Männer, wenn ihnen einer im Wettkampf überlegen ist, er steht ihnen nicht immer bei der Liebe und manchmal steht er ihnen
immer, auch ohne Liebe, sie sind im Zweifel, bin ich gut genug?
Oft wissen sie nicht, ob sie der Sohn ihres Vaters sind und ob sie der Vater ihrer Kinder sind, sie schämen sich, ihr Gesicht zu verlieren, das heißt, bei Fehlern erwischt zu werden, noch dazu von einer Frau vielleicht, sie glauben nicht an sich und so glauben sie auch sonst an nichts, sie taugen zu nichts, sie „fühlen sich einfach scheiße“ und so erscheinen sie auch ihren Frauen, so taugen auch ihre Frauen nichts – was für ein Leben!? Wenn ihr Selbstzweifel zu Selbstmissachtung wird und der sich dann noch in Selbstmitleid verbirgt, dann ist es aus, dann sind sie lebend tot – Zombies.
Sexuelle Selektion
Nun, Blaffer Hrdys Buch ist sichtlich an der Frauenbewegung orientiert, sie hatte seinerzeit als junge Mutter mit ihrem Baby im Körbchen bei den “Vätern” der biologischen Verhaltenstheorie, der Biosoziologie Trivers und Hamilton angefangen zu studieren. das machte auch das Interesse für mich aus. Hatte ich doch mit Männern und mit Frauen zu tun. Nun – ich fand hier zuerst das große evolutionstheoretische Thema, das mich seitdem nicht mehr verließ: Paarung, Fortpflanzung, Evolution und vor allen anderen, sexuelle Selektion. Was ist das? Blaffer Hrdy:
„Sexuelle Selektion beinhaltet typischerweise zwei Komponenten: Konkurrenz zwischen Männchen um den Zugang zu Weibchen sowie Partnerwahl durch das Weibchen.“ (S. 58)
Erstaunlich! Partnerwahl durch das Weibchen! Waren nicht Frauen in aller Welt unterdrückt und wenn sie überhaupt eine Wahl hatten, dann bestimmt nicht die Partnerwahl. Meist bestimmten in den noch patrilinearen, stammesgesellschaftlichen Familien die Väter über die Heiratspartner nach nepotistischen und anderen verwandtschaftlichen Vorteilen der „implicit fitness“ (Hamilton)? So, wie Trump jetzt seine Verwandten mit bedeutenden Posten versorgt. Aber Partnerwahl durch das Weibchen? Wer hatte davon schon gehört?
Tatsächlich ist das erst seit Anfang der 1970er bekannt, erst seit Robert L. Trivers Arbeiten über „Elterliches Investment und sexuelle Selektion“ von 1972. Diese Arbeit und viele Folgende waren jedoch nur möglich unter der Voraussetzung eines Paradigmenwechsels in der Evolutionstheorie, der besser Eidos-Wechsel hieße, weil das das beobachtbare ‚Beispiel‘, griechisch ‚paradeigma‘ gerade nicht wechselt, sondern die „Idee“ wechselt, griechisch. ‚idea‘, der Begriff, in dem das beobachtete Beispiel verstanden werden kann. So wie derselbe seit Jahrtausenden von Menschen angeschaute und beobachtete Fixsternenhimmel mit seinen Wandelsternen plötzlich, wie bei einem psychologischen Kippbild, nicht mehr die Erde, sondern die Sonne im Zentrum zeigte und sehen ließ. Das war Kepler und Kopernikus passiert, gekippt vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild.
In der biologischen Evolutionstheorie hatte ebenso ein ‚Eidos‘-Wechsel stattgefunden. Der ist so einfach, wie noch wenig verstanden, selbst unter Biologen nicht. Bekanntlich geht die Biologische Evolutionstheorie auf Charles Darwin und Alfred Russel Wallace zwei Weltreisende zurück, die unterwegs unabhängig voneinander dieselben Phänomene bei einigen Arten beobachteten, deren Eigenschaften und Eigenschaftsausprägungen oft von Ort zu Ort wechselten. Beide sammelten darüber viel Material, ohne dabei viel noch zu verstehen, wie diese Änderungen zustande kommen.
Hatte nicht Gott alles Leben von Anfang an gleichmäßig und unveränderlich geschaffen? Noch der große Biologe und Taxonom Carl von Linné setzte das als Wahrheit voraus und ordnete die Arten nach der Morphologie der Geschlechtsmerkmale, verstand die Arten selbst aber als unveränderlich. Eine erstaunliche Beobachtung also!
Die Darwinistische Theorie
Darwin konnte seine Sammlung unversehrt nach Hause, nach England bringen, das Schiff, mit der Sammlung von Wallace aber war gesunken, nur er kam heil zurück. Jedenfalls kamen beide zu denselben Beobachtungsergebnissen, die Wallace in einer kleinen Schrift unter seinem Namen veröffentlichte, welche nun aber Charles Darwin anstachelte, 1859 sein eigenes materialreiches Werk mit dem Titel “The origins of species by means of natural selection“ zu veröffentlichen.
Seither heißt diese Theorie Darwinistische Theorie. „Der Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ und ich zögere, diese Wort so zu verwenden, heißt es doch eigentlich zunächst zweckfrei, „Wahl“ oder bestenfalls „Auswahl“ und das Mittel des Ursprungs der Arten hieße einfach „natürliche Wahl“. Aber ich will nicht weiter in die wissenschaftsgeschichtlichen und begrifflichen Feinheiten der Unterschiede beider Autoren eingehen. Und was „Darwin nicht wusste“, das liest man besser bei Ulrich Kutschera nach.
“Überleben des Tüchtigsten”
Was nun aber wirklich wichtig ist: Darwins Erklärung der Entstehung von Arten war noch in keiner Weise in einem analytischen Sinne wissenschaftlich, sie war rein empirisch beschreibend. Wie Arten entstehen war ihm nicht bekannt. Seine theoretischen Überlegungen dazu drehten sich um „Anpassung“, engl.: ‚adaptation‘ oder ‚adaption‘, „Überleben des Tüchtigsten“, engl.: ‚survival of the fittest‘ und „Zuchtwahl“, engl.: ‚natural selection‘, besser: ‚natürliche Wahl‘.
Die ersten beiden Begriffe hat er aus der zeitgenössischen Soziologie entlehnt, sofern man hier von Soziologie reden will. Den ersten Begriff ‚Anpassung“ leiht er sich aus der Theorie von Robert Malthus und dessen „Bevölkerungsgesetz“, das so falsch, wie es ist, bis heute immer noch wirksam in Bevölkerungstheorien und ihren Bevölkerungspolitiken herum spukt und weltweit Schaden anrichtet.
Es besagt, dass die Anzahl der Exemplare der Population einer Art im Quadrat wächst, ihre Nahrungsmittel aber nur arithmetisch. Die Populationen stoßen daher in ihrem Wachstum zahlenmäßig an eine Grenze: Die Nahrung reicht nicht mehr für alle. Sie müssen sich daher diesen Bedingungen der Knappheit „anpassen“, d. h. schlicht, hungern und einige bis viele Exemplare der Überpopulation werden verhungern.
Die „Miserablen“ (Zola), die „Erbärmlichen“(Clinton) müssen sterben, möglichst schnell, daher verlängert jede Unterstützung durch die Gesellschaft nur ihr Leiden, am besten gar kein „Sozialklimbim“. Hier nun kommt der zweite Begriff Darwins ins Spiel, den er sich von seinem zweiten Zeitgenossen, Herbert Spencer, leiht, nämlich das „Überleben des Tüchtigsten“, das ‚survival of the fittest‘. Das sind die Vitalsten, die Stärksten, die Tüchtigsten, die es, wie schon die viktorianische Bourgeoisie, zu etwas gebracht haben, zu Vermögen, aber auch zu zahlreichem Nachwuchs. Die soll man nun auch nicht mit der Sorge für die Armen belasten und keine Steuern für ihre Unterstützung erheben, für Armenspeisung oder für Kranken- oder Rentenversicherung. „The fittest“ – das sind die Auserwählten, die sich auch wohl gern im Augustinischen Sinne des Gottesgnadentums so verstehen, die Trumps, die Bushs und viele andere mehr, die Erwählten, engl. ‚elite‘, jedenfalls Elite, egal ob von der Ostküste oder der Westküste.
Und Malthus war fest von der Notwendigkeit von Hungerkrisen überzeugt, rafften sie doch von Zeit zu Zeit nur die Kranken, die Alten, die Schwachen, und die Kinder hin, wenigstens die am wenigsten Lebensfähigen. Wir müssen weniger werden! Heißt es. Aber keine Abtreibungen! Das ist Sünde!
Das bedeutet, die ursprüngliche „wissenschaftliche“ Idee der Biologischen Evolutionstheorie – Darwin kannte den Begriff Evolution noch gar nicht – diese Biologische Evolutionstheorie ist im Kern selbst „sozialdarwinistisch“, malthusianisch und spencerisch. Auf diese Weise lieferte sie auch eine Art „wissenschaftliche“, weil empirische und naturwissenschaftliche Begründung und Grundlage für den liberalen Victorianischen Kapitalismus und rechtfertigt das Verhalten ihrer Mitglieder biologisch; in dieser Funktion war sie biologistisch, das „Wissenschaftliche Weltbild“ des „Darwinismus“ ist im Wesentlichen Malthusianisch und bildet vielleicht bis heute die Grundlage für die Vorstellung des amerikanischen Liberalismus, der „Libertarians“ und ihrer amerikanischen Geschichte, in der „Großen Erzählung“ von den wagemutigen Pionieren, der Tötung der nomadisierenden Einwohner, ihrer Lebensgrundlage, den Büffelherden, der Landnahme für Ackerbau und Viehzucht, der Besiedelung des weiten Landes und des „Überlebens der Tüchtigsten“.
Auf Darwin folgt die „synthetische Evolutionstheorie“
Allerdings widersprachen diese Auffassungen des Darwinismus vehement der zeitgenössischen radikalen Christenheit, deren Mitgliedern, als den lebendigen Exemplaren der Krone der Schöpfung, ihre Abstammung aus dem Tierreich, insbesondere die vom Affen nicht zugemutet werden konnte. Das kann man auch heute noch laut und deutlich vernehmen, wenn eine weiße Bürgermeisterin irgendwo in US-Amerika, sich zufrieden zeigt, dass dieser „Affe auf Stöckelschuhen endlich das Weiße Haus verlässt“; damit ist Michelle Obama gemeint.
Allein der dritte Begriff Darwins, „natural selection“ ist in einem modernen Sinne wissenschaftlich gedacht und wird in der modernen Selektionstheorie, im hegelschen Sinn, aufgehoben. Allerdings scheint bei Darwin der Begriff „Selektion“ an einer Vorstellung und dem Bild des Züchters gebildet. Der weiß, wie Züchtung funktioniert, von Pferden, von Rindern und allem essbaren Vieh- und Pflanzenzeug.
Was tut der Züchter? Der selektiert, wählt und paart diejenigen Exemplare einer Art, Weibchen und Männchen, mit besonders gut ausgeprägten und gewünschten Eigenschaften, große Euter für viel Milch bei den Kühen, mehr Rippen bei den Schweinen für mehr Koteletts, denn er weiß, dass die leiblichen Nachkommen dieselben gewünschten Eigenschaften aufweisen werden und deren Nachkommen auch, und so fort. Er weiß dass sie vererbt werden. Das wussten schon die Bauern seit Jahrtausenden. Dafür brauchte man keine Biologische Evolutionstheorie. Wie aber Vererbung funktioniert, das wusste niemand, das verstand man damals noch nicht, auch Darwin nicht.Theodosios Dobzhansky, ein russisch-US-amerikanischer Genetiker, Zoologe und Evolutionsbiologe, hat zusammen mit dem Vogelkundler und Biologieriesen Ernst Mayr die Erbschaftlehre des Mönchs Gregor Mendel mit der Evolutionstheorie Darwins zur „synthetischen Evolutionstheorie“ vereinigt.
Diese Vereinigung von Erbschaftslehre und Evolutionslehre gibt seither als genetische Evolutionsbiologie eine vollständig neue und andere „Idee“ von Evolution als der Darwinismus. Aber genetisch heißt nicht „merkmalbestimmend“, „eigenschaftsbestimmend“ sondern ein Gen wirkt bestimmend allein auf das Protein, welches es produziert.
Vom Gen zum phänotypischen Merkmal ist ein weiter Weg. Aber: Eine Art wird nun nicht mehr morphologisch durch „Merkmale“ definiert sondern, von derselben Art sind sich kreuzbefruchtende Organismen. So definiert E. Mayr 1940 zuerst den Artbegriff biologisch-wissenschaftlich. Damit wird Entwicklung neu als Einheit von Art und Artveränderung gefasst und Artveränderung durch Paarung und Erblichkeit von Eigenschaften und Verhalten definiert. Und hier entsteht der „paradigmatische“ Unterschied.
Der „Darwinismus“ organisiert seine Erkenntnisse um eine immer drohende Sterblichkeit. Biologisches Leben ist ein „leben müssen“, bei Strafe des Untergangs. Die Erbärmlichen sterben und das ist gut so, und die Tüchtigsten, die Erwählten leben, aber sie über-leben und das ist auch gut so. Der darwinistische „Darwinismus“ organisiert sich und seine Erkenntnisse um ein Syndrom der Mortalität.
Ganz anders die Synthetische Evolutionsbiologie. Sie organisiert sich um Paarung, Vererbung, Prokreation, Aufzucht, Fortpflanzung und das genetische Weiterleben in der nächsten Generation. Kurz, um die Produktion von Leben. Leben will leben, heute und von Tag zu Tag und über den Tag hinaus, von Generation zu Generation. Und das gelingt Leben “by means of natural selection”, genauer, “by means of active female sexual selection, by active female choice”. Und „fitness“ ist nicht mehr „Anpassung“ und „Überleben des Tüchtigsten“, sondern Fitness ist jetzt wissenschaftlich definiert durch die mehr oder weniger hohe Anzahl der Nachkommen.