Schönheit, Dekadenz…und dann?

Autor: Alexander Wiechec

Hier ist der erste Artikel von Alexander Wiechcek über Schönheit. Er gehört auch, wie der jetzige, zu unserem neuen Generalthema: Infragestellen von Urprinzipien.

Ich sitze in den Säulengängen des Staatsbads Bad Brückenau.

Hier kann ich endlich was über Schönheit und Dekadenz schreiben. Wie fühle ich mich hier als Mensch gemeint, gewürdigt und erhoben, wenn ich durch diese edlen, schönen Säulengänge und Pavillons schreite. Ja, ich fühle mich in meinem Menschsein gemeint, in dem Sinne, dass ich mich an die mir innewohnende Größe und Würde erinnert fühle durch die äußere Gestaltung. (Es ist mein Bedürfnis höherer Ordnung, das ich durch die Schönheit um mich herum erfüllt fühle, und dadurch dass ich es erfüllt fühle, wird mir überhaupt erst bewußt, dass ich es habe. Dadurch dass ich eine Gestaltung vorfinde, die auf diese höheren Bedürfnisse hin geschaffen wurde.

Ja, wurde! Denn zugleich mit diesen Empfindungen wird mir bewusst, dass dieser mich in meinem Menschsein erfassende und erhebende Effekt nur von den alten Gebäuden ausgeht. Die neuen, Kurkliniken und ähnliches, die zwischen diese eingestreut sind, wirken meist eher wie ein „Schlag in die Magengrube“.

Können wir Heutigen denn nur noch Hässliches hervorbringen? Oftmals will es so scheinen.

Wir könnten auch anders, aber wir tun es meist nicht. Ein Grund dafür ist, dass wir den Sinn für diesen höheren Teil des Menschen gesamtkulturell verloren haben. Zusammen mit dem Siegeszug des materialistischen Denkens ging die Reduktion aufs Vordergründig-Praktische einher. Zusammen mit dem Verlust des Geistbewusstseins verlor der Mensch, als Tendenz gemeint, auch die Wahrnehmung von sich selbst. Er verstand sich immer mehr als Teil eines äußerlich verstandenen Zusammenhangs, in dem die Funktionalität und die Einfachheit der Herstellung zu bestimmenden Kriterien wurden. Die feineren, ästhetischen Bedürfnisse, die aus der feineren Wahrnehmung des eigenen Wesens herrühren, kamen dabei unter die Räder. Der spätere Bauhausstil, der nach Walter Gropius` Umschwenken auf die Praktikabilität entstand und von da aus in alle Welt ging, legt hiervon Zeugnis ab. Doch er wurde nicht von Gropius erfunden, sondern der Zeitgeist hat sich in ihm nur Ausdruck verschafft.

Dieses Vergessen der höheren Aspekte des Menschen ging einher mit dem Verlieren des Schönheitssinns. Denn er wendet sich an einen Teil, der von der neuen Kultur geleugnet wurde und entspringt auch diesem Teil: Der Sinn für das Schöne und seinen Wert für das Menschsein und das Bedürfnis nach ihm.

Und nicht nur sein Wert für das Menschsein, um dann „humanistische Kultur“ zu pflegen oder dergleichen, sondern gerade an diesem Ort hier rückt ja auch der Zusammenhang von Schönheit und Gesundheit in den Blick. Dieses sehr schön gestaltete Areal hier wurde ja zu Zwecken der Gesundheit, der Heilung gebaut, nich (nur) aus repräsentativen Gründen. Zur Gesundheit des Menschen gehört seine Ganzheit, gehört also auch das Berücksichtigen seiner höheren Anteile.

Die Reduktion des Menschen aufs rein Materielle und Funktionelle spiegelt sich ganz real in den Gestaltungen unserer Zeit wider, zum Beispiel den Häusern.

So ist zum Beispiel das Oberste am Menschen das Haupt, auch wenn es seine Hoheit nur dann entfaltet, wenn es mit dem Herzen zusammenwirkt. Es thront auf ihm als sein Höchstes. Wie gesagt, wenn es falsch verwendet wird, kann gerade das Höchste zum Niedrigsten werden und führen. Das erleben wir in unserer einseitig verkopften Welt. Der Mensch läuft rein anatomisch nach oben in eine Rundung und eine Verengung aus. Aus diesem ganzen Menschen heraus und dem zugehörigen Körpergefühl haben die Menschen früherer Zeiten gestaltet. Aus diesem ganzen Menschen und dem zugehörigen Körpergefühl heraus nehme ich auch wahr, was mir gegenübersteht. Da vergleiche man einmal die früheren Säulengänge, Bögen, Rundungen mit den heutigen quadratischen, eckigen Gestaltungen. Wo im Körper fühlt man sich da angesprochen?

Die ganzen Gebäude, die Fenster und andere architektonische Elemente waren früher nicht aus einer Zeitmode heraus so gestaltet, sondern weil sie eine Entsprechung zur menschlichen Körperform darstellten – mit dem Haupt! Man betrachte hier auch die arabischen oder indischen Bogenformen. Bei solcher Gestaltung spiegelt sich ein Bewußtsein des ganzen Menschen wider. Zu diesem Bewusstsein gehört dann auch die Würde des Menschen.

Auch das spitze Dach eines Hauses hat eine ganz andeutungshafte Entsprechung mit dem wie man sich als Mensch in seinem Körper fühlt. Man steht auf seinen Beinen, deren Breite sich ungefähr bis zu den Schultern fortsetzt und dann gibt es eine Verengung. Der Kopf ist gewissermaßen das Dach des Menschen-Hauses.

Die Kisten und Kästen, die seit hundert Jahren mehr und mehr gebaut werden, spiegeln dem Menschen auch etwas über sein Selbstverständnis wider. Man kann auf der einen Seite darin eine Geste sehen wie: Kopf ab. Das viereckige Haus spiegelt dem Menschen ein Körpergefühl, das gewissermaßen bei den Schultern endet und nur das übriglässt, was der Mensch mit dem Tier gemein hat. Man könnte dies als Gleichnis für das materialistisch-biologistische, den Geist verneinende Menschenbild betrachten. Und da sind wir beim Thema Dekadenz. Eine andere Lesart ist, dass das Haupt in der Widerspiegelung durch die Architektur deshalb wegfällt, eben weil wir es in einer falschen, einseitig reduktionistischen Weise gebrauchen und es daher kein Haupt mehr ist – als das Höchste des Menschen und die Krönung des Körpers. Es ist ja auch in unserer Kultur von ihm mehr oder weniger abgesondert vom restlichen Körper und „geht eigene Wege.“ Es schwebt in der Welt der Vorstellungen und ist nicht mehr mit der Erde verbunden.

Man könnte auf der anderen Seite die Würfelform, der heute die meisten Häusergestaltungen entspringen, auch als Urbild des Reinstofflichen sehen. Die Vierzahl (die vier Himmelsrichtungen, das Salzkristall) wurde immer mit dem materiellen Prinzip assoziiert.

Also der Verlust des – richtig verstandenen und integrierten – „Oberstübchens“ bildet sich jedenfalls in unserer Kastenkultur ab.

Eine Gestaltung, die den Menschen als Ganzes erfasst und wiedergibt empfinden wir tendenziell als schön, eine Gestaltung, die ein falsch-reduktionistisches Bild wiedergibt, als hässlich. Das ist natürlich keineswegs alles, was man zum Thema schön-hässlich sagen kann. Das ist ein Aspekt, der vor allem auf architektonische Schönheit Bezug nimmt.

Jedoch auch auf anderen Ebenen der Gestaltung kann man sagen, dass in der Schönheit die Ahnung einer tieferen Ebene, einer tieferen Wahrheit, einer Geistigkeit steckt, nun nicht auf die menschliche Gestalt bezogen. Man ahnt, dass im Schönen eine tiefere Wahrheit von sich kündet.

Auch hier: Wenn man eine Welt vorfindet, die immer und immer hässlicher wird, kann man davon ausgehen, dass die Menschen, die sie gestalten, den Zugang zu gewissen Ebenen der Wahrheit verloren haben. Es klingt zwar etwas naiv-romantisch, aber man kann durchaus sagen, dass das Falsche und das Hässliche eine Verwandtschaft haben. (Es geht mir hier zunächst nur um das, was die Menschen hervorbringen.)

Und so wie sich der Verlust von höheren Anteilen des Menschen in seinen Gestaltungen spiegelt, so wirken diese Gestaltungen auch auf den Menschen zurück. Insbesondere bei Kindern kommt das in betracht. Denn sie sind bildbar und von sich aus noch ganz, haben die Anlage zu einem ganzen und höheren Menschsein, natürlich auf einer kindlichen Ebene. Und diese, ihnen innewohnende Anlage zum Ganzen und zum Höheren, wird ihnen nun nicht nur durch die Schulbildung und das Feld der Gesellschaft ausgetrieben, sondern eben auch durch die Gestaltungen, mit denen wir sie umgeben. Wie viel Hässliches wird ihnen heute oft vorgesetzt, wie viel Geschmackloses! Von den sogenannten Kinderfilmen mit unnatürlichen, mißgestaltigen Formen und penetranten Farben, bis zur technisch-kalten Gestaltung von Schulen und Räumen, in denen sie sich aufhalten. Nicht zu vergessen die Gestaltung, die man auf dem Computerbildschirm vorfindet. So lernen sie auch durch die nonverbale Botschaft der Gestaltung, sich den Sinn zum Wahren, Guten und Schönen abzugewöhnen.

Und weil der Mensch aber danach veranlagt ist, wird er unzufrieden und unglücklich, wenn er diese zu ihm gehörige Neigung nicht entfalten kann. Er wird unglücklich und unsicher – weil er nicht mehr, oder weniger, in seiner eigenen Wahrheit und der Wahrheit der Welt verankert ist. Und er wird unmoralischer. Denn im Erleben des Schönen werden, wie schon erwähnt, Geistkräfte im Innern angesprochen und geübt. Und das Erleben der Geistkräfte, der Ichnatur im Menschen ist auch die Ebende, von der das moralische Empfinden ausgeht.

Stattdessen haben wir dann das Internet oder mehr und mehr auch wieder die Ideologie! Denn in der Ideologie steckt unter anderem auch ein Identitätstrieb – und auch ein gewisser moralischer Mangel. Man will sich mit etwas identifizieren. Und weil man nirgends mehr verwurzelt ist, nicht im Wahren, Schönen, Guten der Welt, nicht im Land, in dem man lebt, mehr und mehr auch nicht in der eigenen Familie, da steht der Weg in die Ideologie als Verankerungskrücke offen. Und der Weg in die Digitalität.

Es ließe sich noch vieles zu diesem Thema sagen. Klar ist: Es wird Zeit für einen Paradigmenwechsel, auf vielen Gebieten. Auch auf dem Gebiete der Schönheit.

1Hier der erste Artikel von Alexander Wiechcek über Schönheit: https://agensev.de/?s=Sch%C3%B6nheit . Er gehört auch, wie der jetzige, zu unserem neuen Generalthema: Infragestellen von Urprinzipien